Niederschmetternde Erkenntnis

Ungewollt hatte Jana damit den Denkapparat von Viper in Gang gesetzt. Er fühlte sich erst wieder in die Zeit zurück versetzt, als Sam, seine Verlobte kurz nach seinem Antrag von ihm gegangen war. Er dachte aber auch an den Alten. Den hatte er damals, als er seine Werkstatt anfing aufzubauen, eigentlich nur aus dem Grund eingestellt, weil er dem alten Mann eine Chance geben wollte. Schnell hatte sich aber herausgestellt, dass er nicht nur ein herausragender Mechaniker war, sondern auch ein absolut guter Freunde.

Viper konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie viele Stunden er mit dem Alten nach der Arbeit noch in der Werkstatt gesessen hatte, um seinen Geschichten zu lauschen.

Dieser Mann war aber noch etwas. Er war ein sehr guter Lehrer für Viper. Viper, der damals daran glaubte, der wahrscheinlich beste Mechaniker der Welt zu sein, bekam von dem Alten da gleich mehrere Lektionen erteilt.

Ja, Viper hatte schon immer ein unglaubliches Talent und er war als Ingenieur definitiv ein Aushängeschild mit dem richtigen Auge. Doch was der Alte ihm da zeigte, was dieser durch seine grosse Erfahrung wusste, liess Viper wie einen Schuljungen wirken.

Sam und der Alte hatten jedoch eine Sache gemeinsam, die Viper an ihnen hasste. Beide waren tot. Sam wurde ihm unnatürlich aus dem Leben gerissen, der Alte ging den natürlichen Weg. Dennoch, beide waren weg, beide kamen nie wieder zurück und beide hatten doch einen so grossen Platz in Vipers Herz.

Mitten in seinen Gedanken wünschte er sich nichts mehr, als in der Zeit zurückreise zu können. Es wäre nicht viel notwendig gewesen, seine Verlobte zu retten. Er hätte nichts weiter tun müssen, als den Moment des Antrags auf nach der Landung zu setzen. Selbst wenn Sam nicht angeschnallt gewesen wäre, sie wäre niemals mit dieser Wucht gegen die Decke der Kabine geschleudert worden. Sie hätte überlebt und nach der Landung seinen Antrag angenommen. Wahrscheinlich hätten sie dann auch natürlich geheiratet, jetzt vielleicht auch schon Kinder.

Ach ja, Sam hatte aus Viper damals einen echten Mann gemacht. Vieles, was ihn heute gerade sexuell auszeichnete, kam durch sie. Aber auch ihre Art in seinem Geschäft zu arbeiten hatte starken Einfluss auf ihn. Zwar machte sie in seinem PC-Geschäft lediglich das Büro, aber auch da wirkte sie stark auf das Geschehen ein und half ihm sehr bei seiner Arbeit.

An dem Punkt fragte sich Viper aber, ob er dann jemals den Alten kennengelernt hätte. Das Geschäft mit den Computern hatte er schliesslich nur deshalb aufgegeben, weil es ihn zu stark an Sam erinnerte. Nun ja, aufgegeben hatte er es nicht, nur die Leitung abgegeben. Trotzdem. Ohne den Verlust von Sam, hätte er wahrscheinlich niemals die Werkstatt eröffnet.

Wäre es aber so schlimm gewesen? Ja, der Alte war ihm ein sehr guter Freund und Lehrer gewesen. Doch hätte er ihn nie kennengelernt, würde er auch keinen Verlust verspüren. Also eigentlich wäre es nicht so schlimm gewesen. Davon abgesehen, dass der Alte dann nie eine Chance bekommen hätte und trotzdem gestorben wäre.

Da jedoch bogen seine Gedanken in eine Richtung ab, die er so gar nicht gut fand. Denn mit dem Tod des Alten setzte sich eine Ereigniskette in Gang. Viper fuhr unkonzentriert ein Rennen und endete am Baum. Sein ganzes Leben schien ihm aus den Händen zu gleiten und das kompensierte er damit, dass er sich eine Auszeit gönnte. In einer kleinen Kneipe lernte er dann zwei Frauen kennen und das wäre niemals passiert, wenn Sam nicht von ihm gegangen wäre.

Die beiden Frauen waren Amy und Janine. Er hatte sie eben in einer kleinen Kneipe kennengelernt und sofort gemerkt, dass die Beiden irgendwie anders waren. Er lud sie ein, mal bei ihm und den Rennen vorbeizuschauen und ab dem Moment nahm das Schicksal seinen Lauf.

Da stand er nun. Unter dem wahrscheinlich aussergewöhnlichsten Flugzeug der Welt, dessen Pilot er war. Nicht nur, dass er zu Beginn mit diesem Flugzeug gegen Jagdmaschinen und das Schwesterflugzeug angetreten war. Nein, mittlerweile hatte er im Cockpit so unglaubliche Dinge gesehen, die einfach nur unglaublich waren. Unter ihm eine hell erleuchtete Erde, aber Sterne und schwarzer Himmel über ihm.

Nun zeigte sich, welch fieses Spiel das Schicksal doch mit einem treiben konnte. Es war ja nicht nur das Flugzeug. Er sah auch Mario, einer seiner besten Freunde. Waldemar, Benjamin, Kim und Natascha. Neben ihm stand Jana. Alles Menschen, die er niemals kennengelernt hätte. Von den Abenteuern, die er mit einigen von ihnen schon erlebt hatte ganz zu schweigen.

Wahrscheinlich wäre er auch niemals Rennfahrer geworden. Es gäbe seine Viper nicht. Auch Amy, die ja einen extrem grossen Teil seines Lebens ausmachte, hätte er nie kennengelernt. Oder Janine und Rebekka. Nein, auch Katja, Elena und Claudia gäbe es in seinem Leben nicht. Natürlich auch Perry und Donald nicht. Wahrscheinlich gäbe es auch die ganzen Rennwochenenden nicht.

Das war ein regelrechter Schock für Viper. Klar, Amy und ihre Leute wären heute genauso erfolgreich wie sie es jetzt auch waren. Aber, wahrscheinlich wären sie heute nicht in der Rennszene vertreten, was ein herber Verlust in diesem Bereich gewesen wäre. Auch Amy hätte es deutlich schwerer, mit ihrem zweiten Freund in Kontakt zu bleiben. Mit dem Flugzeug war es kein Problem. Damit war man so schnell in den USA, dass man auch mal zum Abendessen vorbeischauen konnte. Aber, dafür brauchte man eben genau dieses Flugzeug und das hätte Amy nun nicht.

Schon traf ihn der nächste Schock. Wieso hatten sie das Flugzeug denn eigentlich? Weil da jemand wollte, dass sie das Ding aus der Hand der Terrorzelle entführen. Nicht unbegründet. Bei dieser Geschwindigkeit, gepaart mit der Tarnvorrichtung und der EMP-Waffe, die einst eingebaut war, hatte diese Maschine sehr grosses Potential, viel Schaden anzurichten. Amy, Janine und Rebekka hätte zwar ihren Teil der Mission durchführen können. Aber, wer hätte das Ding dann geflogen? Klar, es gab natürlich viele gute Piloten auf der Welt, aber wen davon hätten die Mädels akzeptiert?

Genau da wurde ihm schlecht. All seine Gedanken waren auf einen Punkt zurückzuführen. Den Verlust von Sam. Wäre sie nicht gestorben, hätte er den Alten nicht kennengelernt. Wäre der nicht gestorben, hätte er Amy nicht kennengelernt. Ohne diesen Umstand gäbe es diese Rennwochenenden nicht. Sie hätten das Flugzeug nicht entführt und die Terrorzelle hätte mittlerweile vielleicht schon grossen Schaden angerichtet. Sie hätten sich auch nie dem Schatten gestellt und ihn schlussendlich besiegt, was für die Menschheit unter Umständen fatal gewesen wäre.

Wäre das Schicksal eine Person gewesen, Viper hätte sie sich geschnappt und jeden einzelnen Knochen pulverisiert. Wie konnte es denn angehen, dass die Frau, die er über alles geliebt hatte, sterben musste, um so viele Dinge in Gang zu setzen? Es gab auf der Welt doch so viele Menschen, die den Tod verdient hatten. Aber nein, denen ging es ja gut. Aber seine Sam, ein wundervoller Mensch musste sterben, um ihn an den Punkt zu bringen, an dem er jetzt war. Das war doch scheisse!

»Willst du reden?«

Viper bekam fast einen Herzinfarkt. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass ihm Benjamin, welcher sich mittlerweile direkt vor ihn gestellt hatte, gar nicht bemerkt hatte.

»Was? Nein. Warum?«

Viper konnte in Benjamins Gesicht deutlich ablesen, dass er absolut den Plan hatte, was da gerade in ihm vorging.

»Ganz einfach. Ich kenne den Gesichtsausdruck. Den habe ich schon so oft im Spiegel gesehen. Du fragst dich, warum irgendwas in deinem Leben unbedingt hat so sein müssen. Richtig?«

Viper zog eine Augenbraue hoch.

»Du bist echt gut! Danke, aber ich muss das erst verdauen. Wenn ich dann Redebedarf habe, komme ich gerne zu dir.«

Benjamin nickte und drehte sich um. Blieb dann aber stehen und drehte seinen Kopf zurück.

»Ich kann dir aber eines sagen. Egal was dir passiert ist, egal ob es dir noch wehtut. Du lebst im hier und jetzt. Vergiss deine Vergangenheit nicht, aber lass von ihr nicht deine Zukunft überschatten!«

Für Viper war es, als hätte ihm jemand mit einem Baseballschläger die Stirn bearbeitet. Er, der allmächtige Viper, war im Grunde nichts anderes, als dieser kleine Nerd, der bislang in seinem Leben nichts auf die Beine stellen konnte.

Sofort dachte er wieder an den Alten. Er war der Erste gewesen, der ihn von seinem hohen Ross herunter geholt hatte. Jetzt, so viele Jahre und so viele Erfahrungen später, tat es ihm ein unfähiger Nerd gleich. Nun hatten ihn bereits zwei Menschen zu der Einsicht gebracht, dass man niemanden unterschätzen durfte. Sei es alte Menschen, die anscheinend ihr Leben schon verwirkt hatten, oder Nerds, die in ihrem Leben nichts auf die Reihe bekamen. Beide waren durchaus dazu in der Lage, Viper auf den Boden der Tatsachen zurückbringen zu können.

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